
Clara Fall
von Felix Hartmann
„Es ist einfach so passiert.“ Paul sitzt regungslos auf der Kante des Ehebetts und stiert auf seine Füße. Clara hat ihm gerade unter Tränen erzählt, was er nicht glauben kann, nicht glauben will: Sie hat mit einem Kollegen geschlafen. Der Klassiker, auf einer Geschäftsreise. Der andere? Karl, etwa sein Alter, auch verheiratet. Ein Gefühlsdrama. Für Paul und für Clara. Eines, das sich Tag für Tag so ähnlich irgendwo in unserer Nähe abspielt.
Kennen Sie die Amefi-Falle?
Amefi, das ist die unausgesprochene, meist unbewusste Sehnsucht, alles mit einem für immer zu teilen. Und laut dem Psychotherapeuten Stephan Lermer der sicherste Weg, „eine Partnerschaft an die Wand zu fahren“.
Das Fiese: In der hormongelenkten Anfangsvernarrtheit kommt diese Nur-Du-Sucht von ganz allein. Und mit Karacho. Nur wenn SIE oder ER da ist, fühlen wir uns ganz. Alles, wirklich alles wollen wir zu zweit erleben. Doch irgendwann verfliegt der rosa Rausch. Unterschiede und Unstimmigkeiten werden sicht- und spürbar, SIE oder ER ist nicht mehr das Einzige, was man(n) oder frau zum Leben braucht. Wer das nicht merken will und an Amefi festhält, überfordert den anderen. Und sich selbst.
Kein Problem bis hierher. Ich denke, Sie und ich, wir sind uns einig: Man muss und kann auf Dauer nicht jede Ansicht, jedes Hobby, jede freie Minute teilen. Doch das Bett? Da hören die Alleingänge aber auf! Wir haben uns für einen Menschen entschieden und dafür seine Gefühle zu hüten. Wehtun verboten! Lust und Verlangen haben sich auf SIE oder IHN zu konzentrieren. Basta.
Nackte Tatsachen!
Wer sich umhört, lernt: Fremdgehen ist ih bä bä. Finden die Gehörnten. Und irgendwie auch die Seitenspringer – jedenfalls wenn man nach dem Gewissenskater geht, der so manchen zur Beichte treibt. Wer sich umguckt, der staunt: Alle Welt tut’s. Die halbe wenigstens: Umfragen zufolge kommt nämlich fast jede/r Zweite im Laufe seines Beziehungslebens mal vom Pfad der Tugend ab. Die Zahlen kann man anzweifeln. Dass Untreue eine weit verbreitete, bloß weitgehend totgeschwiegene Angelegenheit ist, ist eine Tatsache.
Männlein und Weiblein schenken sich da übrigens wenig: Sie sind fast gleich (un)treu – nur übertreibt ER und untertreibt SIE gern bei der Anzahl der eigenen Gute-Nacht-Geschichten. Das verzerrt die Wahrnehmung und macht IHN zum bösen Buben, der seine Wollust nicht im Griff hat. Was Umfragen auch zeigen: Fremdgeherinnen verlassen mehr als doppelt so oft wie Männer ihre Partner für die neue Flamme. Männliche Seitenspringer verstricken sich lieber in einer logistisch anspruchsvollen Ménage-à-trois. Unterm Strich suchen beide das Gleiche: Aufmerksamkeit, Bestätigung, Leidenschaft, Glücksgefühle – den Kick des Anfangs eben.

Erwischt! Aber wen genau? Wer von den beiden ist der/die Seitenspringer/in? Studien zeigen immer wieder, dass Fremdgehen keine Geschlechterfrage ist. Männer wie Frauen sind gleichermaßen anfällig.
Muss das sein?
Ja ja, der Anfang. Da wird Ehrlichkeit geschworen und dann doch verheimlicht, um den heißen Brei geredet und – wenn’s hart auf hart kommt – inbrünstig gelogen wie im Wahlkampf. Warum gehen Wunsch und Wirklichkeit bei der Treue so oft getrennte Wege?
Weil Monogamie eine cleverere Idee ist, die die Chancen auf Liebe, Sex und Nachwuchs fair verteilt, der Mensch von Natur aus aber blöderweise nicht so richtig monogam ist? Weil nach Jahrhunderten religiös-moralischer Gängelung neben den Gedanken auch die Triebe frei sind? Weil wir in Wert-losen und übersexten Zeiten leben, in denen sich beherrschen out ist? War früher alles besser, weil anständiger? Oder wurden Liebeleien und Sexkapaden bloß so gründlich unter den Teppich gekehrt wie in der DDR die Kriminalität: Worüber keiner spricht, das gibt’s auch nicht? Wohl alles zusammen.
Über was reden wir?
Was ist Treue eigentlich? Wo fängt Untreue an? Paul und Clara hatten einander das Exklusivrecht aufs Anfassen und Angefasstwerden eingeräumt. Clara hat den Vertrag also eindeutig gebrochen. Ihre Gründe spielen da erst mal keine Rolle.
Viel spannender: War sie Paul schon vorher untreu? Als sie begann, sich mit Karl zum Lunch zu treffen? Als sie begann, mit den Augen und dann mit Worten zu flirten? Als sie anfing, regelmäßig mit Karl zu chatten und immer intimere Gedanken, Sehnsüchte und Details Ihrer Beziehung preiszugeben? Als sie sich das erste Mal ausmalte, wie es wäre, mit Karl zu schlafen? Als sie anfing, sich dabei zu berühren? Als sie Karl das erste Mal küsste, damals auf der Weihnachtsfeier?
An Pauls Stelle: Wo hätten Sie rot gesehen? Beim Kuss? Beim Flirt? Noch früher? Es gibt schließlich Mann-Frau-Freundschaften, die nie im Schlafzimmer enden, aber eine Tiefe erreichen, die mehr Nähe schafft als ein One-Night-Stand das je könnte. Und die für den Partner gefährlicher und oft schmerzhafter ist als ein kurzes Tête-à-Tête.
Wo der Seitensprung anfängt, das hängt ab von Ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Wertvorstellungen. Und vom Deal – denn was erlaubt ist, das bestimmen genau zwei Menschen: Sie und Ihr Partner. Ob die Verabredung hält, steht auf einem anderen Blatt.
Geht Amefi im Bett?
Untreue ist ein Zeichen für eine kaputte Beziehung. Oder der Fremdgeher hatte von vornherein den falschen Partner. Denn eine funktionierende Beziehung ist eine Offenbarung, Traum-Sex inklusive, ein Seitensprung daher abwegig. Bis dass der Tod uns scheidet. Amen.
Wenn’s so einfach wäre. Ist es aber nicht.
Anders als das Anfangs-Amefi ist Treusein eben kein Automatismus – dann wären wir’s ja alle, kein Mensch bräuchte Treuegelübde. Treue ist bewusster Verzicht aus Rücksicht und Respekt. Verzicht auf neue Gerüche, auf intime Momente mit anderen, darauf sich neu zu spüren. Jedenfalls anders als mit dem Partner. Natürlich übt der Reiz des Neuen nicht auf jeden die gleiche Anziehung aus: Für den einen ist Treue eine lockere Fingerübung, für den anderen eine Herkulesaufgabe. Denn Versuchungen gibt es viele. Und ihnen dauerhaft zu widerstehen, ist, wie es scheint, immer mehr die Ausnahme als die Regel.
Seitenspringern wird gern um die Ohren gehauen, sie würden bloß in einer unsicheren Mutter- oder Vater-Kind-Bindung wurzelnde Komplexe kompensieren, indem sie sich regelmäßige Bestätigungskicks holen. Genauso plausibel ist, dass sie sich leichter von Regeln lösen, die andere aufgestellt haben, und bloß ihrer natürlichen Lust auf Abwechslung folgen.
Ist der Mensch an sich nun monogam oder nicht? Oder nur zeitweise? An dieser Frage beißen sich Psychologen und Evolutionsbiologen seit Generationen die Zähne aus. Das können wir nicht klären. Klar ist: Wenn Treue der Normalfall ist, dann sind verdammt viele Frauen und Männer unnormal. Oder umgekehrt.
Clara Fall?
Clara ist Paul untreu geworden. Die beiden hatten sich, lebenserfahren und realistisch wie sie sind, verständigt: Andersgeschlechtliche Freunde, hin und wieder ein kleiner Flirt – das sollte okay sein und dem goldenen Käfig keine Chance lassen. Warum hat Clara die Verabredung einseitig gekündigt? Gibt es Gründe, die Sie für sich selbst gelten lassen würden?
Als Clara begann, sich Karl zu öffnen, da war ihre Beziehung keineswegs ein Scherbenhaufen. Sicher, die fiebrige Leidenschaft, mit der sie sich Paul anfangs hingegeben oder ihn verführt hatte, war solidem Kuschelsex gewichen. Im Vergleich zu anderen Paaren gab’s den aber noch regelmäßig. Nur eben routiniert. Ohne rasenden Puls, ohne blindes Verlangen, ohne wilde Experimente. Dafür so eingespielt, dass ein Orgasmus keine Rarität war.
Von Karl bekam sie plötzlich, was Paul ihr nach Tausenden gemeinsamen Tagen und Nächten nicht mehr gab, nicht mehr geben konnte: Das Gefühl, aufregender und begehrenswerter zu sein als alle anderen. So kam eins zum anderen. Verwerflich? Verständlich? Menschlich?
Bevor Sie Clara verurteilen: Pflügen Sie durch Ihre Erinnerungen, graben Sie in Ihren Erfahrungen und durchforsten Sie Ihren Bekanntenkreis. Wie viele ähnliche Geschichten kommen da zusammen? Lassen Sie moralinsaure Klischees links liegen. Bilden Sie sich Ihre Meinung zu einem heiklen Thema, bei dem es im wahren Leben selten schwarz und weiß gibt. Und suchen Sie mit Ihrem Schatz eine Verabredung, mit der beide leben können, ohne sich groß zu verbiegen. Möglichst nach der Amefi-Phase.
Ihr Felix Hartmann
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